Wenn ich morgens mit meinen Hunden zur Arbeit fahren möchte, müssen wir ca. 30 m vom Gartentor aus an unserem Grundstück entlang zur Garage laufen. Mangels Bürgersteig laufen wir mitten auf der Straße oder wechseln die Straßenseite. Gegenüber befindet sich ein Grünstreifen, auf dem sämtliche Hunde der Nachbarschaft Gassi geführt werden. Auch unsere Gartenmauer wird von vielen Rüden gerne zum Markieren genutzt. Es gibt also dementsprechend viele Stellen, an denen Mira und Holly „Zeitung lesen“ wollen. Wir brauchen daher für diese wenigen Meter gefühlt Stunden.
Nachdem wir ein paar Jahre hier gewohnt haben und immer alles super war, hat sich Stück für Stück ein Problem eingeschlichen. Und wie das bei Problemen oft so ist, bemerken die meisten von uns sie erst, wenn sie ein gewisses Ausmaß angenommen haben und sie anfangen uns zu beeinträchtigen. Da bilde ich keine Ausnahme. ;-)
In meinem Fall war es Mira, die mehr stehen wollte, als zu laufen und angestrengt mit gespitzten Ohren die Straße scannte.
Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht
Im Alltag nimmt man sich oft nicht die Zeit genauer hinzusehen und so gibt man sich schnell mit einfachen Erklärungen zufrieden. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt z.B. eine Baustelle nebenan und es war von morgens bis abends relativ viel Betrieb auf der Straße. Kam mir zwar komisch vor, was sie da so spannend fand, aber vielleicht hatte sie ein Geräusch gehört, das mir entgangen war oder eine Katze war über die Straße gehuscht, die ich nicht gesehen hatte. Ich animierte sie daher dazu weiterzulaufen. Es blieb allerdings nicht bei einem Mal, sondern sie zeigte dieses Verhalten immer öfter. Zunächst nur morgens, dann auch abends, wenn wir wieder nachhause kamen. Bald schon bei jedem Verlassen des Grundstücks, unabhängig von der Tageszeit.
Es wurde immer schlimmer, sodass wir kaum noch voran kamen. Manchmal musste ich ziemlich drängeln, damit sie sich losreißen konnte. Dann lief sie meist nur wenige Meter und blieb wieder stehen, um angestrengt die Straße zu beobachten. Manchmal kam ein fragender Blick in meine Richtung. Es schien teilweise, als würde sie auf etwas warten. Ich sah einfach nicht warum sie das tat. Es ergab für mich keinen Sinn und ich war zusehends genervt davon, dass ich nicht einfach laufen konnte. Schließlich war ich in aller Regel mit Equipment für die Arbeit vollgepackt und hatte nicht selten auch noch zusätzlich schwere Einkaufstaschen zu schleppen oder abends ein schlafendes Kind auf dem Arm. Mir fielen bald die Arme ab und dieser Hund wollte sich einfach kaum bewegen!
Es dauerte nur wenige Wochen und wir bekamen ein weiteres Problem hinzu. Normalerweise möchte Mira gerne Kontakt zu anderen Hunden und ist einer Begrüßung nie abgeneigt. Vor unserem Grundstück änderte sich ihr Verhalten aber und wir bekamen Schwierigkeiten bei Hundebegegnungen. Sie war aufgeregt, konnte sich kaum abwenden und fing irgendwann an die Hunde zu verbellen und ein riesiges Theater zu veranstalten. Für mich nicht nur super unangenehm, sondern auch zunächst einmal nicht nachvollziehbar. Das hatte sie zuletzt als Junghund getan und eigentlich lag diese Phase lange hinter uns. War es Territorialverhalten?
Erst, als sie anfing Passanten zu fixieren, fiel es mir wie Schuppen von den Augen – und ich änderte schlagartig mein Verhalten!
Was war passiert?
Es kam seit einiger Zeit des öfteren vor, dass ich morgens zu spät war. Vollgepackt mit Kind und Taschen. Mein Sohn war inzwischen fast 2,5 Jahre alt und bestand darauf selbst zu laufen. Natürlich nicht brav neben mir, sondern mit Tempo vorneweg. Warten, wenn die Hunde schnüffeln? Fehlanzeige! Ich vermied es daher auf dem Grünstreifen zu gehen, damit ich
A) nicht mit Hunden, Gepäck und Kind an den parkenden Autos auf der anderen Seite vorbei musste
B) das Kind nicht in einen Hundehaufen trat und
C) wir auf der Straße ohne 20 Schnüffelstellen einfach schneller vorankamen.
Ohne Bürgersteig auf der anderen Seite liefen wir aber mitten auf der Straße. Mein Kind spielte am liebsten das Spiel: Wer ist als erstes an der Garage? Mein Stresspegel stieg dementsprechend, wenn ein Auto kam und so beeilte ich mich natürlich hinterherzukommen. Ich animierte meine Hunde regelmäßig schneller zu laufen, um meinen vorneweg rennenden Sohn einzuholen und wenn ein Auto kam, drängelte ich umso mehr, damit wir noch rechtzeitig an der Garagenauffahrt ankamen. Dieses „schnell schnell“ machen und „zack zack“ alles ins Auto verfrachten und dabei noch genervt zu sein, war nicht nur für die Hunde kacke, sondern auch fürs Kind. Das reagierte nämlich auf meinen Stress und zeigte sich oftmals „bockig“, wollte nicht sonderlich kooperieren und machte viel Quatsch. Alles Dinge, die man unter Zeitdruck und im Straßenverkehr so gar nicht gebrauchen kann. Und die wiederum so überhaupt nicht zu meiner Entspannung beigetragen haben…
Ich war mit so vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habe. Erst als ich mir die Zeit dafür genommen habe die Situation ganz rational zu betrachten und MEIN eigenes Verhalten zu reflektieren, war mir klar was los war.
Die Probleme bei Hundebegegnungen, die Mira nur vor unserem Grundstück zeigte, hatten nichts mit territorialem Verhalten zu tun, sondern waren allein der Erregungslage geschuldet, die ICH auf dieser Strecke verursacht habe.
Kennst Du das auch?
Du gehst nochmal schnell mit Deinem Hund vor die Tür, bevor Du verabredet bist oder Du nutzt Deine Mittagspause für eine fixe Runde mit Deinem Vierbeiner. Du gehst zügig, damit Dein Hund in der knapp bemessenen Zeit möglichst viel Bewegung bekommt und Du Dich anschließend mit ruhigem Gewissen anderen Dingen widmen kannst.
Doch auf dem Weg kommt es zu Verzögerungen und auf einmal läuft Dir die Zeit davon. Je später es wird, desto ungeduldiger wirst Du und umso häufiger unterbrichst Du Deinen Hund beim Schnüffeln, drängelst oder ziehst ihn weiter, wenn er stehen bleibt, um sich etwas anzusehen. Du reagierst gestresst und Du bist genervt von allem, was Dich zusätzlich Zeit kostet. Sei es der Freiläufer, der Euch verfolgt, Person XY, die versucht Dich in ein Gespräch zu verwickeln oder sogar Dein eigener Hund, der einfach gefühlt an jedem Grashalm schnüffeln möchte...
Ich habe früher in meinem Bürojob meine Mittagspausen auch regelmäßig genau so verbracht. Von der Arbeit ging es schnell nachhause und dann immer flott Richtung Feld. Da meine Hunde da auch aufgeregt waren, ging das auch ziemlich zügig. Wir lagen also gut in der Zeit. Und oft habe ich es dann gut gemeint und wollte „noch schnell eine Ecke weiter“ gehen, damit sie sich mehr bewegen konnten. Als sich die erste Aufregung gelegt und alle ihre Geschäfte erledigt hatten, ging für meine Hunde aber der eigentliche Spaziergang erst los. Genau jetzt wollten sie in Ruhe schnüffeln, Enten beobachten, nach Mäusen buddeln, Hundekumpels begrüßen und was man als Hund nicht alles so tut. Und anstatt dieses entspannte Verhalten zu fördern und die Streckenlänge einfach entsprechend zu kürzen, unterbrach ich sie bei allem, damit wir schnell weiterlaufen konnten, die geplante Runde schafften und ja pünktlich wieder zuhause waren. Ich fühlte mich oft wie ein „Kameltreiber“ und war ständig genervt. Schließlich war es jeden Tag dasselbe und jeden Tag musste ich ihnen aufs Neue klarmachen, dass wir für „so was“ einfach keine Zeit hatten!
Allein der Gedanke daran, macht mich heute ganz nervös.
Wie hoch ist Euer Grundstress?
Die Uhr im Nacken zu haben stresst. Und dann beeilen wir uns. Aus Menschensicht ist das vollkommen nachvollziehbar. Das Problem ist nur, dass Dein Hund nicht weiß, WIESO du gestresst bist. Er weiß nicht, dass Du zu spät zur Arbeit kommst oder ansonsten einen wichtigen Termin verpasst – oder einfach nur schnell über die Straße möchtest. Er sieht nur, DASS Du gestresst und scheinbar „auf der Flucht“ bist.
Wenn Deine Runde MAL so ist, ist es auch nicht weiter tragisch. Es wird nur dann ein Problem, wenn dieser Stresspegel zur Grundeinstellung wird. Du bist hektisch und gestresst, Dein Hund wird hektisch, zieht immer häufiger an der Leine und reagiert immer mehr auf Umweltreize, was Dich wiederum stresst… ein Teufelskreis entsteht!
Je nach Typ und Charakter Deines Hundes kann es sein, dass er z.B. mit Meideverhalten in Bezug auf Dich reagiert. Er schaut Dich nicht mehr an, reagiert nicht auf Signale, tendiert ständig weg von Dir, zieht an der Leine oder tut sich schwer im Freilauf zu Dir zurückzukommen und zeigt evtl. weiteres unerwünschtes Verhalten wie z.B. jagen. Dann scheint es so, als würde er Dich ignorieren und nur noch sein Ding machen. Dabei reagiert er aus seiner Sicht deeskalierend und versucht Dir Raum zu geben. Das Jagen kann dann auch ein Ventil sein, um den eigenen Stress abzubauen und ein Stück weit aus der Situation raus zu kommen. Willst Du, dass Dein Hund in Deiner Nähe läuft, entspannt ist und regelmäßig Blickkontakt sucht, darfst Du keine Aggressivität / Gereiztheit ausstrahlen.
Tendiert Dein Hund aufgrund seiner Veranlagung vermehrt dazu auf Umweltreize zu reagieren (z.B. viele Hütehunde) versucht er bei einer Stressreaktion von Deiner Seite aus auch eher die Ursache dafür in der Umwelt zu finden.
Jeder Reiz, der dann auftaucht und zufällig vielleicht mit einem schnelleren Schritt von Dir und / oder Zug an der Leine kombiniert wird, kann Deinem Hund den Eindruck vermitteln, dass genau DIESER Reiz (Mensch, Hund, Fahrrad etc.) der Grund für deinen Stress und vermeintliche Fluchtreaktion ist. Taucht regelmäßig ein Reiz (vielleicht sogar derselbe) in dieser Situation auf, kann dein Hund bald auf diesen Reiz reagieren. Weil ein Grundstress vorhanden und Dein Hund quasi auf Alarmbereitschaft ist, wird der auftauchende Reiz schneller negativ bewertet. Reagiert Dein Hund vom Typ her sowieso schon mehr auf optische oder auch akustische Reize, kann es leicht passieren, dass er z.B. anfängt Menschen oder Hunde zu verbellen.
Mir ging es damals noch um die gelaufene Strecke, nicht darum WAS auf dem Spaziergang geschah. Heute ist das anders. Heute geht es mir um die draußen verbrachte Zeit mit meinen Hunden. Es ist kein gestresstes Gerenee mehr, sondern Qualitytime für uns und die Länge der Strecke reine Nebensache. Und obwohl ich es auf meinen täglichen Gassirunden schon lange so handhabe, ist es mir auf diesen wenigen Metern vor meiner Haustüre dann doch passiert. Ich habe mit meinem Verhalten für eine erhöhte Erregungslage gesorgt.
Fehler erkennen und beheben
Ein paar einfache Verhaltensänderungen meinerseits haben schon geholfen. Denn wie so oft sind WIR es, die unser Verhalten ändern müssen, damit es auch unsere Hunde tun.
Ich habe mir morgens ein wenig mehr Zeit eingeplant und mich dann zuerst ums Kind und dann um die Hunde (oder umgekehrt) gekümmert. Wir haben uns wieder Zeit gelassen. Sie konnten schnüffeln und die Straße beobachten, solange sie wollten. Und erst, wenn alle im Auto saßen, habe ich meine Taschen und Kisten geholt. Es wurde schnell besser, die Erregung ging nach unten und inzwischen sind auch wieder direkte Hundekontakte vor unserem Haus möglich. :-)
Unterstützende Signale
Muss es unterwegs mal zügig gehen, bleib dennoch freundlich und möglichst locker. Animiere Deinen Hund mit freundlicher Stimme mitzukommen. Ziehe nicht an der Leine, sondern gehe näher zu ihm, um seine Aufmerksamkeit auf Dich zu lenken und belohne ihn dafür, dass er sein Verhalten unterbricht und Dir folgt. Gerne kannst Du für diesen Zweck ein „Weiter“-Signal aufbauen.
Dieses kannst Du anfangs im Alltag z.B. immer dann geben, wenn Dein Hund sowieso gerade gehen möchte. Lobe / belohne ihn, wenn er Dir folgt. Nach und nach fragst Du es auch mal unter steigender Ablenkung ab. Fange ganz leicht an und mache es nicht zu oft.
Wenn Du ihn dann doch mal an der Leine weiterziehen musst, arbeite mit Ankündigung. Du kannst z.B. „Wir gehen“ sagen, zählst dann im Kopf 21-22-23 und baust danach langsam Zug auf (nur am Geschirr!) und nimmst Deinen Hund in aller Ruhe mit. Lobe ihn auch hier, wenn er sich löst und Dir folgt. Durch diese Ankündigung lernt Dein Hund, dass Du vorhast gleich weiterzugehen, aber er wird nicht so überrumpelt. Die kurze Bedenkzeit ist wichtig, damit er noch reagieren kann. Oft lösen sich die Hunde dann relativ zügig, pinkeln vielleicht noch schnell über die Stelle und gehen dann mit. Denn auch für Deinen Hund ist der Leinenzug unangenehm. Ist er aber aufgeregt, nimmt er ihn nicht bewusst wahr. Unterbewusst sorgt er aber für Stress. Denke daran und sei umsichtig mit der Leine.
Und ganz wichtig: Sorge dafür, dass Dein Hund bei anderen Gelegenheiten regelmäßig genügend Zeit bekommt seinen Interessen nachzugehen. Jeder, der während Corona mal in Quarantäne sitzen musste, weiß, wie frustrierend es ist, wenn man in seiner freien Bewegung, der Art der Beschäftigung und in der Anzahl der Sozialkontakte eingeschränkt ist. Das sorgt für Frust und Unzufriedenheit und man reagiert schneller gereizt.
Ein zufriedener Hund ist ein unproblematischer Hund
Gestalte die „Draußen-Zeit“ mit Deinem Hund so, dass er in erster Linie seine Bedürfnisse erfüllen kann. Denn der Spaziergang ist oft die einzige Gelegenheit sich zu bewegen, Erkundungsverhalten zu zeigen, die Nase einzusetzen und dem Gehirn neuen Input zu geben oder mit Artgenossen zu interagieren. Je zufriedener Dein Hund ist, desto geringer ist das Risiko für problematisches Verhalten und umso leichter kann er auch mal auf etwas verzichten, wenn es gerade nicht geht.
Dabei musst Du nicht auf jedem Spaziergang alles erfüllen, sondern solltest viel mehr im Auge behalten, was Dein Hund im Moment gerade braucht. Das kann ein Relaxtag mit gemütlichen Schnüffelrunden in bekanntem Gebiet sein. Oder ein gemeinsamer Spaziergang mit Freunden, eine neue Strecke (vielleicht an einem ungewöhnlichen Ort), ein Freilaufgebiet oder eine lange Wanderung. Streue hier und da noch eine Aufgabe mit Dir zusammen ein, die Euch beiden Spaß macht und Du bekommst eine abwechslungsreiche Mischung und sorgst für genügend Ausgleich.
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